R. Aschwanden: Politisierung der Alpen

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Titel
Politisierung der Alpen. Umweltbewegungen in der Ära der Europäischen Integration (1970–2000)


Autor(en)
Aschwanden, Romed
Reihe
Umwelthistorische Forschungen
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 60,00
von
Nicolai Hannig, Fakultät für Geschichtswissenschaft Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten einzelne in Europa erkannt, dass die Alpen ein gefährdeter Raum sind, der, sofern man ihn nicht schützt, schon bald seine Einzigartigkeit verlieren würde. Es dauerte allerdings bis in die siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ehe sich eine Bewegung formierte, die sich dezidiert für den Schutz der Alpen als Lebens- und Wirtschaftsraum und auch als ein europäischer Naturraum einsetzte. Die Alpen wurden nun schnell zu einem Politikum, die Diskussionen über ihre Zukunft eingebettet in den Prozess der europäischen Integration.

Romed Aschwanden untersucht in seiner Basler Dissertation diese Politisierung anhand der gesellschaftlichen Debatten über Bedrohung und Schutz. Im Zentrum steht dabei der Zeitraum von 1970 bis 2000. Hier verdichteten sich, so der Autor, Diskussionen über Naturschutz und Naturnutzung, über Eigenständigkeit und Abhängigkeit. Der Tourismus erschloss für immer grössere Kreise mehr und mehr Alpenfläche. Zugleich und damit verbunden nahm der Transitverkehr zu, der sich in den achtziger Jahren zum wohl dominantesten Thema für Umweltschutzgruppen entwickelte. Die Regierungen der Schweizer Bergkantone setzten sich währenddessen dafür ein, die ökonomische Eigenständigkeit der einzelnen Gemeinden zu erhalten – wohlweisslich, dass die Berggebiete aus eigener Kraft wirtschaftlich zu schwach waren, um die zunehmende Abwanderung junger Leute aufzuhalten. Schliesslich häuften sich in diesem Zeitraum auch extreme Naturereignisse, die die Region zusätzlich unter Druck setzten und die ohnehin schon hitzigen Debatten weiter anfeuerten, denn sowohl für Experten wie auch für Aktivisten lag es auf der Hand, dass diese Zunahme in direktem Zusammenhang mit der Übernutzung des eigentlich doch schützenswerten Naturraums stehe.

Methodisch greift Aschwanden vor allem die Netzwerkanalyse auf, die er um qualitative Ansätze erweitert. Dieses Vorgehen geht auf das deutsch-österreichisch-schweizerische Forschungsprojekt Issues with Europe zurück, das sich mit transnationalen Netzwerken im deutschsprachigen Alpenschutz und deren Bezügen zur EU beschäftigte. Aschwandens Hauptakteure sind lokale Widerstandsgruppen, die sich jedoch im Verlauf seines Untersuchungszeitraums zu einer national und international vernetzten Alpenschutzbewegung entwickelten. Hinzu kommen Vertreter der kommunalen, nationalen und europäischen Politik sowie unterschiedliche Experten. Ausgewertet hat Aschwanden dazu vor allem Akten internationaler Alpenschutzorganisationen (zum Beispiel der Commission Internationale pour la Protection des Régions Alpines), Materialien aus Privatarchiven und einzelne Zeitzeugeninterviews.

Darüber hinaus greift Aschwanden politikwissenschaftliche Zugänge auf, etwa wenn er sich mit der Frage beschäftigt, «inwieweit die Europäische Integration die Diagnose der Bedrohung der Alpen verändert hat und wie die neu entstehenden politischen und öffentlichen Strukturen von Umwelt- und Regionalbewegungen genutzt wurden» (S. 13). Er interessiert sich also für den Transfer politischer Prozesse von Nationalstaatsebene auf diejenige der EU und beobachtet vor diesem Hintergrund, wie es vor allem die Alpenkonvention von 1991 war – ein völkerrechtlicher Vertrag, der den Schutz und die nachhaltige Entwicklung der Alpenregion regelte –, die eine Europäisierung der Umwelt- und Raumplanungspolitik für die Alpen in Gang setzte. Gleiches gelte übrigens für die Ursachen der umwelt- und regionalpolitischen Probleme.

In ihrer Ergebnisbildung ist die Studie überzeugend. Fünf übergeordnete Befunde kann Aschwanden herausarbeiten, die er in Thesen pointiert zusammenfasst. Die erste bezieht sich auf die Ökologisierung der Alpen. Damit ist eine Verschiebung auf Diskursebene gemeint, die auf die seit den siebziger Jahren gesteigerte ökologische Sensibilität zurückging und die bis dato noch recht dominante romantisierte Alpenwahrnehmung verdrängte – zumindest in einem Grossteil der politischen und zivilgesellschaftlichen Debatten. Nicht ganz klar wird in diesem Zusammenhang, inwieweit Bewegungen wie die Alpenschutzbewegung ökologische Trends nur aufgriffen und auf den Alpenraum anwendeten oder sie nicht vielleicht auch zu den Innovatoren zählten, die Rhetoriken und Argumentationsstrategien anhand einer konkreten Region erprobten, die später andere weiterentwickelten. Hierfür wäre eine etwas breitere Kontextualisierung sicher hilfreich gewesen.

Etwas unspezifischer ist die zweite These, mit der Aschwanden auf «Spannungen zwischen lokalen, nationalen, europäischen und globalen Dynamiken und Interessen» verweist (S. 289). Dass es bei diesen Akteursgruppen zu Spannungen kam, ist evident, ebenso dass hier politische Grenzen verhandelt wurden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Aschwanden zeigen kann, wie sich mit der Zeit auf eigentlich allen Ebenen ein Verständnis durchsetzte, das die Alpen als grenzüberschreitende Naturlandschaft und ihren Schutz als gesamteuropäische Herausforderung begriff.

Die dritte These zielt auf die Bewegungsdynamik und den gesellschaftlichen Einfluss der Alpenschutzbewegung, die zunächst vor allem eine schweizerische Alpenschutzbewegung war. Aschwanden arbeitet überzeugend heraus, wie sich Gruppen innerhalb des linksalternativen Milieus der Schweizer Berggebiete formierten und Umweltbedrohung mit Souveränitätsverlust verknüpften. Sie prangerten eine «Kolonisierung» der Alpen durch Flachländer an und sahen in der Ausbeutung alpiner Natur immer auch die Ausbeutung der Alpenbevölkerung. Mitunter lässt Aschwanden seine Leser mit diesem starken Vokabular der Aktivisten etwas allein, wenngleich es ihm gelingt, das postnationalstaatliche, wachstums- und fortschrittskritische Selbstverständnis der einzelnen Gruppen aufschlussreich zu analysieren.

Mit seiner vierten These rekurriert Aschwanden noch einmal dezidiert auf die Europäisierung der Alpenschutzbewegung – ein Aspekt, der eigentlich in allen Kapiteln immer wieder zur Sprache kommt. Am Beispiel der Debatten über Verkehrspolitik, Transit- und Güterverkehr zeigt Aschwanden, wie – zumindest in den Augen vieler Aktivisten – die Politik des Nationalstaats lokale Herausforderungen und Bedrohungen schuf, die man wiederum unter Anrufung der europäischen Ebene zu bewältigen suchte.

Mit seiner fünften These verweist Aschwanden schliesslich auf die Demobilisierung der europäischen Alpenschutzbewegung, die in enger Verbindung zur nationalen Alpenschutz-Initiative, zur europäischen Alpenkonvention sowie zur globalen Agenda 21 von Rio stand. Es sei die Enttäuschung gewesen, welche die Bewegung letztlich wieder in ihre nationalen und lokalen Rahmen zerfallen liess; eine Enttäuschung darüber, dass die Initiativen und Konventionen, auf die man so lange Zeit hingearbeitet hatte, am Ende nur Symbole blieben, deren Strahlkraft durch schwammige Vereinbarungen und grosszügige Spielräume für Politik und Wirtschaft schnell verpuffte. Noch anschaulicher wären die Analysen in diesem Zusammenhang gewesen, wenn sie die mittlerweile auch in der Zeitgeschichte vorliegende Forschung zum Konzept der Enttäuschung eingebunden hätten.

Die gut lesbare Studie gibt einen fundierten Einblick in die Geschichte der Alpenschutzbewegungen, die dank der Netzwerkanalysen überzeugend herausarbeiten kann, wie sich einzelne Gruppen zunächst auf lokaler Ebene zusammenschlossen und dann relativ erfolgreich auf nationaler und europäischer Ebene mobilisieren konnten. Die grosse Stärke der Arbeit liegt in ihrer fundierten Rekonstruktion der Debattenverläufe und Argumentationsmuster der Bewegung. Mitunter vermisst man etwas die Einordnung und Kontextualisierung, was es erlaubt hätte, die gesellschaftliche Bedeutung der vielen Diskussionen auch ausserhalb des Alpenrahmens besser einzuschätzen. Etwas schade ist, dass der Autor trotz der insgesamt hervorragenden Ausstattung des Bandes mit Lesebändchen und zahlreichen Farbabbildungen Bilder nur illustrativ eingesetzt hat. Während die Netzwerkbilder sehr anschaulich und hilfreich sind, haben die verwendeten Fotografien eigentlich keinerlei Quellenwert. Insgesamt aber ist es Aschwanden gelungen, die komplexen Zusammenhänge der Politisierung der Alpen auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene überzeugend aufzuschlüsseln.

Zitierweise:
Hannig, Nicolai: Rezension zu: Aschwanden, Romed: Die Politisierung der Alpen. Umweltbewegungen in der Ära der Europäischen Integration (1970–2000), Köln 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 422-424. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

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